© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 24 in Es-Dur
(Smith-Crawford 30)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

            Diese Suite entspricht mehr der Tonartcharakteristik, wie Mattheson sie beschreibt, als die sechste Suite , die in der selben Tonart steht. Dieses Werk hat eine ernsthaftere Atmosphäre an sich als die frühere Suite. Die Suite existiert zwar auch in einer Dresdener Version, 1 hier beginnt sie aber mit einem typischen Prelude ohne Taktstriche, das nur im Londoner Manuskript vorhanden ist. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle, dass von hier bis zum Ende des Manuskripts beinahe alle Seiten aus der Hand desselben Kopisten stammen. Seine Handschrift taucht im gesamten Londoner Manuskript häufiger auf als die der fünf anderen hier zu findenden Kopisten. Im Verlauf der letzten drei Suiten ändert sich sein kalligraphischer Stil etwas. Ob er das mit Absicht tat oder es das Resultat der zwischen den Kopien vergangen Zeit war, bleibt eine offene Frage. Ebenfalls wichtig zu erwähnen ist die Tatsache, dass die Courante der Dresdener Version in Wirklichkeit die selbe wie in der sechsten Suite ist. Deshalb habe ich sie bei dieser Aufnahmen nicht berücksichtigt.

            Als Erklärung für die Hinzufügung von einigen Preludes in einer zweiten Phase des Manuskripts bemerkt Tim Crawford, dass Weiss in einem oft sehr begrenzten Raum, wie es auch hier der Fall ist, ein Prelude schnell hinzukomponiert hat, für den Fall, dass der Spieler nicht selber ein Prelude improvisierte.

            Tatsächlich füllen die Preludes von Weiss oft exakt den Platz aus, der ihnen bleibt, wie klein er auch sei. Das deutet darauf hin, dass er dadurch sozusagen ein Beispiel-Prelude geben wollte. Weil man davon ausging, dass der Spieler ein Prelude vor der Suite improvisieren würde, wurde es zuerst nicht mit eingeschlossen. Nach Tim Crawford dienen die Preludes von Weiss als Beispiele oder musikalisches Grundmaterial, das man oder ausarbeiten konnte. Dies würde erklären, warum kein Interesse zu erkennen ist, mehr als den vorhandenen Raum zu füllen. Gewiss enthält das Manuskript aber auch einige Preludes, wie zum Beispiel das in Suite #20 S-C 26 in D-Dur, das unverbesserlich perfekt aufgebaut ist.

Obwohl dieses Prelude ziemlich frei ist, ist es dennoch wichtig, hier klar zwischen Achteln und Sechzehnteln zu unterscheiden. Wie auch in anderen Fällen sucht Weiss hier offenkundig unregelmäßige Akzente und Phrasenlängen. Diese Zutaten geben einem Werk dieser Art eine interessante Würze. Dem Komponisten bereitet es großes Vergnügen, die kontrapunktische Auflösung in einer Stimme hinauszuzögern, während er zugleich eine andere Stimme in einer korrekten Kadenz auflöst. Zusammen ergibt das eine interessante Verschiebung der Phrasenlängen und des harmonischen Gefüges. Dieses subtile Ineinanderverwobensein bestätigt wieder einmal den anspruchsvollen und sicheren Charakter des Komponisten. Hier findet sich wieder ein Beispiel dafür, wie die harmonischen Einschränkungen des Instruments sich zum Vorteil des Komponisten wenden, wenn das Kontra-A (als frei schwingende Saite unveränderbar) verwendet wird anstatt des zu erwartenden As. Der Komponist geht als Sieger aus dem Spiel hervor, weil sich der Effekt durch häufigen Gebrauch in der Suite von einer überraschenden Kuriosität zu einem gewöhnlichen Vorgehen wandelt.

            Die Allemande ist voll von anspruchsvollen Stellen für die linke Hand. Es finden sich hier auch vereinzelte Fingersätze für die rechte Hand. Sie beginnt nicht mit einem Auftakt, sondern auf dem ersten Schlag, was sie etwas ungewöhnlich erscheinen lässt, da sich das so nur noch bei einer anderen Allemande findet (der Allemande der 25. Suite). Im zweiten Teil des Stückes finden sich einige Momente mystischer Glut. Der Rigaudon hat einen stark akzentuierten Charakter, wohingegen der Rhythmus hartnäckig die lebendigen Melodien unterstützt. Das Zeichen erscheint an zwei Stellen und zeigt ein Vibrato an. Die Sarabande hat, obwohl sie anderen im Manuskript gleicht, ein einzigartiges musikalisches Gesicht aufgrund ihrer harmonischen Fortschreitungen. Wie groß die technische Beherrschung für die Interpretation der komplexen Klänge sein muss, die hinter der Tabulatur-Notation verborgen sind, erweist sich an einer Passage im zweiten Teil des Stückes. Ein Bass-Pedalton muss ausgehalten werden, während auf dem folgenden Schlag ein Triller gespielt wird, was den musikalischen Verlauf auf sehr dramatische Weise bereichert. Das lässt sich so nur auf einem Original-Instrument realisieren. Wenn dieselbe Sequenz im folgenden Takt auftaucht, wird schnell klar, dass hier diese Technik unangemessen wäre, weil das einen unausgewogenen Klang zur Folge hätte.

Die Gavotte, von demselben Charakter wie der Rigaudon, besitzt dennoch eine freudige Anmut und zeigt einen rhythmischen Puls und ein Motiv mit absteigenden Bässen, die nicht der Gavotte, wohl aber dem Rigadoun 21. Suite ähneln. Daraus kann man schließen, dass in der Tat die Titel austauschbar sind. Das elegante Minuet, das prächtig und irgendwie kostbar ist, erinnert an die Bewegungen von Tänzern am Hof. Die spieltechnische Schwierigkeit dieses Satzes liegt daran, es klar aber doch nicht starr zu spielen. Wie überall sollte auch hier das Grundprinzip hinter jeder Phrase in der Nachahmung des natürlichen Singens bestehen.

Beginnen wollen wir die Analyse des Gebrauchs von Bindungen mit der Beobachtung, dass es bei diesem Menutt Bindungen auf betonte Schläge, zusätzlich zu den üblicherweise vorhandenen unterschiedlichsten, in der Londoner Handschrift, aber nicht in der Dresdener gibt. Mit der selben Evidenz lässt sich feststellen, dass die Londoner Version der Sarabande eine sorgfältige Annäherung an den Gebrauch von Bindungen bietet, wohingegen die Dresdener Ms in dieser Hinsicht mit weniger Sorgfalt ersonnen scheint. Umgekehrt ist aber zum Beispiel in der Suite Nr. 8, S-C 12 die Dresdener Version mehr durchdacht. Woher kommen diese vielen Unterschiede? Es scheint sich daran zu zeigen, dass Bindungen gegenüber den tatsächlichen Noten im Repertoire des Lautenmusik des 18. Jahrhunderts von zweitrangiger Bedeutung waren, weil sie nur eine optionale, überlegt unpräzise Hinzufügung zum musikalischen Gestus darstellen und in allererster Linie einen wichtigen Beitrag zum sichtbaren Fluss der Kalligraphie lieferten. Das lässt sich an den verschiedenen Kopierstilen verdeutlichen: Manche verwenden Bindungen sehr selten, während andere ihre Manuskripte verschwenderisch damit ausstaffieren. Manche Kopisten waren anfällig dafür, nur zwei Noten mit großen kalligraphischen Gesten zu binden, während ihre Kollegen mehrere Noten mit winzigsten Tintenbögen verbanden. Visuell geprägt wie wir es sind, werden wir dadurch oft gemäß unserer modernen Gewohnheit dazu verleitet, diese Bindungen unkorrekt auszuführen, und in der Tat oft auf eine Weise, die den Intentionen des Komponisten total zuwider läuft. Diese Thema werden wir anhand des Allegros der fünfundzwanzigsten Suite und anderen Stücken dieser Aufnahme vertiefen.

Der Titel "Le Sans Soucie" erinnert einen an das Schloß Sans Souci nahe Berlin. Es war die Residenz Friedrich des Großen, eines Mannes, der die französische Kultur ebenso wie die Musik sehr schätzte. Er lud prominente Gelehrte wie Voltaire ein um ihn in seinem Schloss zu besuchen. Berühmt für seine Wortspiele und seinen intelligenten Witz, schrieb Friedrich Voltaire ein Rätsel als Einladung:

P si
----------- à -----------
venez 100

(Auflösung: Venez souper à Sans souci = Kommen Sie zum Abendessen nach Sanssouci?)

Voltaire antwortet darauf: G a (J’ai grand appétit = Ich habe großen Hunger.) Vielleicht wollte Weiss mit diesem wundervollen Werk etwas von der Fröhlichkeit vermitteln, die er bei seinen Besuchen in Berlin erfuhr, wo er das Vergnügen hatte, mit Friedrich II., der selber Flötist war, und seiner Schwester Wilhelmine, eine Lautenistin und Verehrerin von Weiss, zusammen zu sein. Der Untertitel des Werks ist Allegro assai, aber es ist in Vierteln und nicht in Halben notiert. Durch diese Notation soll möglicherweise eine zu schnelle Spielweise verhindert werden. Man kann sich dabei vorstellen, wie eine Kutsche voll fröhlicher Menschen auf Sanssouci zufährt. Man wird durch dieses Stück auch an das Thema und die hüpfenden Rhythmen des Capriccio erinnert, das J.S.Bach "sopra la lontananza del fratello dilettissimo" (zur Abreise seines Bruders) komponiert hat, insbesondere an die darin enthaltene "Aria di Postiglione". Dieses Allegro entspricht dem rhythmischen Modell der Paysanne der vorhergehenden Suite. Mit seiner Erinnerung an Bilder der deutschen Landschaft und Prinzessin Wilhelmines, lädt uns das Werk dazu ein, sich der Ironie bewusst zu werden, die darin liegt, dass Bayreuth, wo die Prinzessin Gönnerin von Lautenisten vom Rang eines Falckenhagens war, zur einen Zeit die Tugenden eines der intimsten Instrumente, der Laute, feierte, und nur wenige Jahrzehnte später, Heimat der grandiosesten Opern von Wagner wurde. Man wird dies logischerweise als eine gegenseitige Ergänzung der scheinbar gegensätzlichen musikalischen Tendenzen beurteilen müssen, wenn man bemerkt, dass diejenigen Komponisten, die für große Körper geschrieben haben, auch für die ästhetischen Belange von feinsinnigeren Instrumenten sensitiv waren (Wagner bezeichnete das Orchester als große Gitarre; Berlioz komponierte Opern auf der Gitarre; Bach und Monteverdi benutzten die Laute oder Theorbe in großen Orchesterwerken).


1 : Dresden 34 nach der Dresdener Konkordanz von Peter van Dessel


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