Die Harrachschen Manuskripte
Unbekannte Lautenmusik von S.L. Weiss in einem östereichischen Schloß entdeckt
von Michael Freimuth und Tim Crawford

Die Residenz der Familie Harrach, das etwa 40 km von Wien entfernte Schloß Rohrau, wurde vor einigen Jahren nach den schwerwiegenden Zerstörungen am Ende des 2. Weltkrieges liebevoll restauriert und ist jetzt die Heimstatt der prächtigen und weltbekannten Kunstsammlung der Familie, die zu den berühmtesten Privatsammlungen der Welt gehört.

Rohrau selbst ist schon seit langem Reiseziel für Forscher und Musikliebhaber, die sich für das Leben des großen Komponisten Josef Haydn interessieren, der 1732 dort geboren wurde. Seine Mutter stand als Köchin im Dienst der Harrachs, sein Vater war Wagnermeister und später Marktrichter. Die Harrach-Familie hatte eine große Liebe zur Musik und trug über viele Generationen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert eine bedeutende Musikbibliothek zusammen, einschließlich vieler Manuskripte. Beinahe der gesamte Musikbestand wurde in den 50-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entweder privat oder auf Auktionen verkauft, darunter auch die 4 Bände mit Lautenwerken des 18. Jahrhunderts, die zu der umfangreichen Sammlung der Musikmanuskripte gehören, welche die New York Public Library der Familie abkaufte (Mss. Harrach 11-14). Ein singuläres Lautenmanuskript verblieb bei den Harrachschen Familienpapieren, die im Wiener Allgemeinen Verwaltungsarchiv lagern (Archiv Harrach, H. 120); einige weitere Musikalien, darunter Kammermusik von Telemann, Albinoni und sehr frühe Werke von Haydn, finden sich in demselben Archiv.

Im vergangenen Jahr (2004) fand der Verwalter der Harrachschen Kunstsammlung im Schloß Rohrau, Graf Ulrich Arco-Zinneberg, sieben Bücher mit Musikmanuskripten aus dem 18. Jahrhundert unter den Büchern der Harrachschen Bibliothek, die zusammen mit der Kunstsammlung aufbewahrt wurden. Er benachrichtigte den musikalischen Leiter des Barockmusikensembles Concilium Musicum Wien Paul Angerer, der die Wichtigkeit dieser Entdeckung sofort erkannte, die bedeutende, bisher unbekannte Kammermusikwerke von Musikern wie Antonio Vivaldi, Gottfried Finger, Angelo Ragazzi und Francesco Alborea umfasste, sowie auch zwei umfangreiche Bücher mit Lautentabulaturen. Es wurde sofort der Plan gefasst, einige dieser Werke in einem Konzert aufzuführen und auf CD aufzunehmen, wofür Fördermittel der Landesregierung von Niederösterreich beantragt wurden. Zur sofortigen Begutachtung der Lautenbücher nahm Herr Angerer Kontakt mit Michael Freimuth auf, dem Lautenisten seines Ensembles, der erkannte, dass es sich dabei um eine sehr bedeutsame neue Quelle für die Musik von S.L. Weiss handelte. Er schrieb den folgenden Text zur Begründung des Antrags auf Fördermittel:

„Unter den kürzlich auf Schloß Rohrau in NÖ entdeckten Musikbänden befinden sich auch zwei Bände in Tabulaturschrift. Die Tabulaturen, die, bis auf wenige Seiten in Ziffern, durchweg in französischer Buchstabentabulatur geschrieben sind, beinhalten Musik für 11- bzw. 13-chörige Laute, der sogenannten Barocklaute, und zwar zum größten Teil Werke von Silvius Leopold Weiss. Sie gehören offenbar zum Bestand aus dem Hause Harrach, der heute in der Public Library in New York aufbewahrt wird. Das lässt sich aufgrund der übereinstimmenden Schreibarten feststellen, sowie gleichen Titelseiten und Nummerierungen.

Schon beim ersten Durchsehen ist klar, dass diese mit ca. 200 Seiten sehr umfangreichen Bände für die Forschung einerseits, für die lautespielenden Musiker andererseits, von großer Bedeutung sind. Man kann wohl schon jetzt sagen: Diese Tabulaturen werden in Zukunft, neben den beiden bisherigen Weiss-Manuscripten in London und Dresden, die dritte Hauptquelle von Weiss‘scher Lautenmusik darstellen. Da sie Stücke aus der frühen Schaffensperiode beinhalten, schließen sie in gewisser Weise sogar eine Lücke im Werk.

Der erste Band trägt den Titel „Weiss Sylvio- Lautenmusik“ und ist wohl aus jüngerer Zeit.
Viele der Seiten tragen seinen Namen, demnach sind allein in diesem Band 11 mehrsätzige Suiten, die ganz oder zumindest teilweise bisher unbekannt waren.

Drei Besonderheiten seien außerdem erwähnt:

Ein bisher erstmalig gefundenes komplettes viersätziges Duo für zwei Lauten ist enthalten.

Die Suite in A, in verschiedenen anderen Quellen als Lautensolo überliefert, ist hier mit einer Violin- und Bassstimme als Triokomposition vorhanden.

Ein Caprice innerhalb einer Suite ist offenbar vom Mr. Schaffniz. Er war Lautenist und Zeitgenosse von Weiss und ist in der Literatur sowohl bei Walther (Lexicon), als auch bei Baron erwähnt. Stücke von ihm waren jedoch unbekannt.

Der andere Band trägt den Titel: „Lautenmusik von unbekannten Componisten“. Dies zeigt, dass der Archivar oder Buchbinder nicht mit Musik in Tabulatur vertraut war. Sind auch keine Komponisten ausdrücklich genannt, so lassen sich doch auch hier aufgrund von eindeutigen Konkordanzen Werke von S. Weiss nachweisen. Überhaupt scheint die Bindung fehlerhaft in der Reihenfolge zu sein. Unvollständige Satzenden sind z.B. vor die entsprechende Suite geheftet. So findet sich auch im zweiten Band ein Einzelsatz „Presto“, der aufgrund einer Konkordanz zur Warschauer Quelle zur C-dur Suite von Weiss im ersten Band gehört. Aufgrund solcher und ähnlicher Konkordanzen lassen sich auch im zweiten Band noch 4 ganze Suiten S. Weiss zuordnen. Vermutlich erhöht sich diese Zahl noch nach weiteren Forschungen. Zu erwähnen sind noch zwei interessante Skordaturen. Die eine ist eher nicht ungewöhnlich, die andere jedoch, welche B-moll erfordert, ist sicher außergewöhnlich. So kann man insgesamt sagen, dass auch der zweite Band Musik von besonderer Qualität darstellt.“

Die daraus entstandene CD wurde im Juli 2005 veröffentlicht und enthält Michael Freimuths Einspielungen von 5 Weiss-Sätzen (2 Preludes, 2 Fantasien und einer Allemande) aus den neu entdeckten Quellen auf einem Originalinstrument aus dem Jahr 1740 von Anthony Posch, Wien, sowie einige der Kammermusikwerke, gespielt vom Concilium Musicum Wien. Sie ist erschienen bei Cavalli Records und trägt den Titel Klingende Schätze aus Schloss Rohrau (CCD 446).

Dies ist nicht der rechte Ort für eine komplette Beschreibung und Analyse der neuen Harrachschen Lautenmanuskripte, aber ein paar Worte ergänzend zu dem ersten Bericht von Michael Freimuth sind sicher angebracht. Nimmt man die Musik etwas genauer in Augenschein, dann fällt auf, dass keiner der beiden Hauptkopisten wirklich zuverlässig ist, so dass die Unikate der Weiss-Stücke auf jeden Fall erst einmal einer prüfenden Bearbeitung bedürfen, um sie aufführen zu können. Die Werke scheinen zum großen Teil früh zu sein und enthalten einige Suiten, die auch in anderen Quellen zu finden sind. Die späte Musik von Weiss (nach 1725) ist tendentiell meistens nur in einzelnen Kopien erhalten, und es ist bekannt, dass seine Werke bereits kurz nach seinem Tod schwer zu finden waren. Die meisten der Stücke sind für 11-chörige Laute, und einige der Stücke für 13 Chöre lassen erkennen, dass die Zeichen ‚5‘und ‚6‘erst später hinzugefügt wurden.

Wie Michael Freimuth betont, ist die aufregendste Entdeckung der Fund zweier vollständiger Kammermusikwerke von S.L. Weiss: Das Duett für zwei Lauten in C-Dur und das A-Dur Trio für Violine, Laute und Bass. Das Duett wird ausdrücklich in beiden Stimmen (die interessanterweise komplett in zwei Kopien vorhanden sind) als ‚Concerto‘ betitelt, was aber nicht auf weitere beteiligte Instrumente hindeutet, sondern sich vielmehr auf die musikalische Form oder das Genre bezieht, die bzw. das locker im Venetianischen Concerto verwurzelt ist. Beim Trio handelt es sich um die Tabulatur der weitverbreitetsten Weiss-Sonate Nr. 44 in A-Dur1 mit zwei hinzugefügten Begleitstimmen für Violine und unbezifferten Bass. Sie verstärken die äußeren Melodielinien in der Art der Lautenkonzerte von Hinterleithner, Weichenberger und anderen und enthalten also keine weiterführenden musikalischen Themen. Wie in den fünf anderen vollständig, und den vier teilweise erhaltenen Kopien der Sonate2 fehlt bei dieser Kammermusik-Version das eröffnende Prelude und die abschließende zweite Gigue, die wohl als spätere Hinzufügungen in der bekanntesten dieser Quellen, dem Dresdener Ms., zu verstehen sind.

Die beiden Manuskripte aus Rohrau enthalten insgesamt 167 Sätze für Laute, in 26 Suiten-ähnlichen Abfolgen auf 233 Seiten angeordnet. Für ungefähr 50 bereits bekannte Weiss-Stücke finden sich hier neue Konkordanzen, aber es sind auch 44 Sätze von Weiss darin, die bisher unbekannt sind. Bei dieser Zahl ist eine Suite nicht mitgezählt, die zwar Silvius Weiss zugeschrieben ist, aber wahrscheinlich von seinem Bruder Johann Sigismund stammt. Im zweiten Band, „Lautenmusik von unbekannten Componisten“, finden sich einige Suiten in einem Stil, der dem von Weiss sehr nahe kommt. Eine davon dürfte von Lauffensteiner stammen, wobei eine komplette Suite in d-moll wohl im frühen Stil von Weiss ist. Interessanterweise haben drei der Suiten von Weiss, die hier anonym überliefert sind, im Vergleich mit den Konkordanzen in anderen Quellen andere Sarabanden, die aber auch von Weiss stammen dürften.

Eine neue Weiss-Suite in a-moll ist offenkundig thematisch sehr eng mit Jacques Gallots wunderschöner Allemande ‚L‘Amant malheureux‘ verbunden, die ursprünglich in dieser Tonart steht. Weiss hat mindestens zwei weitere Arrangements von ihr angefertigt; eine für 13-chörige Laute steht im Londonder Manuskript (ff. 66v-67r), und die andere, in g-moll, (in Paris BN Rés.Vmc.ms.61, f. 23v), ist ebenfalls eindeutig als sein Werk zu erkennen, auch wenn sie in diesem Ms. anonym überliefert ist. Die Harracher Suite wird von einem Capricio eröffnet, in dem immer wieder Motive aus der Allemande auftauchen, es schließt sich die ‚Allemande en double‘ an, die eine variierte Version von Gallots Stück darstellt, gefolgt von einer Courante, die sich mit der Allemande in gleicher Weise berührt wie die Courante (‚Mons. Weis Courante‘), die der g-moll Version ‚L‘Amant malheureux‘ im Pariser Ms. folgt. Danach kommt eine Fantasia(auf der CD aufgenommen), deren Bezug zum Stück von Gallot nicht so offenkundig ist; die abschließende Gigue hingegen ist eine phantasievolle und doch sehr treue Bearbeitung der Allemande von Gallot in Triolen. Dieses Werk erinnert uns sowohl an das Interesse von Weiss für die frühere französische Lautentradition als auch an die seltsame und verwirrende Beziehung zwischen der Allemande und der Gigue im Zweiertakt im frühen 18. Jahrhundert.

Der vielleicht überraschendste Fund im zweiten Band ist eine Reihe von 4 Stücken in italienischer Tabulatur für eine Laute in Renaissance-Stimmung: Eine Pastorale in D-Dur (ähnlich den Werken von Corelli, Händel und anderen, darunter auch Weiss, die das Sackpfeifenspiel der Schäfer zur Weihnachtszeit in Rom imitieren), gefolgt von drei zusammen gehörenden Stücken aus einer Sonate in A-Dur (Allemanda, Corente und [Menuetto]), aus Giovanni Zambonis Sonate d‘intavolatura di leuto (Lucca, 1718). Zambonis Musik war anscheinend in Wien gut bekannt 3, obwohl heute wenig über den Komponisten bekannt ist, außer der Tatsache, dass er in Rom geboren wurde. Es ist gut möglich, dass er die Solosonate für arciliuto und die zwei ‚concertinos‘ für arciliuto mit zwei Violinen und Orgel (alle anonym und in gewöhnlicher Notation) aus der Harrachschen Bibliothek komponiert hat, die früher im Besitz von Robert Spencer waren und nun in der Royal Academy of Music, London sind; ein ähnliches, ebenfalls anonymes Concerto für arciliuto findet sich unter den neu entdeckten Kammermusikwerken in Rohrau.4

Es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass die Entdeckung der Rohrauer Manuskripte von großer Bedeutung für alle Lautenspieler ist. Die ‚neuen‘ Werke vergrößern den bereits vorher umfangreichen Gesamtbestand der erhaltenen Werke von Silvius Weiss um weitere 7% und die neuen Versionen bereits bekannter Stücke sind von großem Wert für Spieler und Forscher gleichermaßen. Es ist geplant, die Musik so bald wie möglich zu veröffentlichen, und die Manuskripte werden bei der Vorbereitung der abschließenden Bände der Edition der Sämtlichen Werke von Silvius Leopold Weiss mit einbezogen, die von Dieter Kirsch und Tim Crawford im Bärenreiter Verlag in Zusammenarbeit mit „Das Erbe deutscher Musik“ herausgegeben werden.

Übersetzung: Markus Lutz


1 Nach der Nummerierung in T. Crawford, ed., Silvius Leopold Weiss: Sämtliche Werke für Laute, Band 5: Die Handschrift Dresden, Faksimile der Tabulatur, Teil I, pp. 146-151.

2 Komplette Kopien finden sich in den folgenden Mss.: Dresden SLB, Sonate 18; Paris BN Rés.Vmc.ms.61 (datiert Venice 1712), ff. 12v-15r; Warschau RM 4136 (früher Breslau Ms. Mf. 2003), ff. 15-17; Brno HAM 372, pp. 45-48; Venice ‚Chilesotti‘ MS (Transkription eines verschollenen Tabulaturbandes um 1900), Nr. 504.2-505.3. Teilkopien sind in: Haslemere (private collection, Dolmetsch library), pp. 127-129; Warschau RM 4137 (früher Breslau Ms. Mf. 2005), pp. 121-3; Wroclaw Universitätsbibliothek 60019 Odds. Mus. (früher Breslau Ms. Mf. 2002), 41-3. Isolierte Sätze finden sich in: Strasbourg (datiert 1740: Bourrée); Köln (Bourrée, hier ‚Scherzo‘, und Menuet); Warschau Universitätsbibliothek RM 4140 (Breslau Ms. Mf. 2008: Menuet); Warschau Universitätsbibliothek RM 4141 (Breslau Ms. Mf. 2009: Menuet).

3 In einer langen Liste von Musikmanuskripten, die 1731 im Wiener Diarium angeboten wurden, finden sich einige vokale und instrumentale Kompositionen (teilweise mit Laute) von Zamboni. Ebenfalls finden sich darin 8 Bände von Sololautenmusik und nicht weniger als 14 Manuskripte mit Kammermusik von Weiss, die wohl verloren gegangen sind. (Hannelore Gericke, Der Wiener Musikalienhandel von 1700 bis 1778, Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge, Band 5, (Graz-Köln: Böhlau, 1960), pp. 100-101.

4 Die Titelseite eines solchen Konzertes ist in der Harracher Sammlung der New York Public Library; dort steht ‘Concertino per cammera, con arciliuto obligato, violini e basso’. Dieser Titel ist heute fälschlicherweise einer anonymen Sonate für (?) Violine und Bass in a-moll zugeordnet (NYPL Harrach V. 31, item 1).


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