© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 17 in B-Dur
(Smith-Crawford 23)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Dieses Werk ist insofern einzigartig als es das einzige unter den sechsundzwanzig Solo-Suiten und fünf Duo-Suiten des Londoner Manuskripts ist, bei dem die Besetzung im Titel explizit angegeben ist. Wegen dem Akzent auf dem "a" lässt sich nicht genau entscheiden, ob Weiss sich dabei auf den italienischen oder auf den französischen Ausdruck "en solo" bezieht, obwohl der Unterschied kaum von Bedeutung ist. Wie bei der sechzehnten Suite scheint auch Suite Nr. 17 eine Überfülle von Sätzen zu haben. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass das so nicht stimmt. Tatsächlich entspricht die Entree exakt einer Allemande und die Saltarella klingt wie eine tänzerische Gigue, was eine streng logische Satzfolge andeutet, da, wenn man das Prelude und die Sarabande beiseite lässt, die restlichen sechs Sätze paarweise ausgearbeitet sind, sich eine Suite mit "eigentlich" sieben Sätzen ergibt. Obwohl Weiss hier nicht ausdrücklich Bourree I, Bourree II, usw. geschrieben hat, wie in den Suiten Nr. 3 und 25, ist die Absicht des Komponisten doch deutlich ersichtlich. Der Gebrauch einer solchen Anordnung war bei Komponisten der Barockzeit üblich. Wenn Bourree I, Gavotte I und Minuet I als Einzelsätze auftauchen wie im Dresdener Manuskript (Bourree I erscheint auch im Münchner Manuskript), dann entsteht dabei der Eindruck einer unvollständigen musikalischen Struktur. Das Weglassen des zweiten Satzes, der eine Da-Capo-Reprise des ersten Satzes ermöglicht und sogar fordert, würde das erste Stück zu einem kurzen Gassenhauer werden lassen.

Wenn man diese Suite mit der zehnten Suite vergleicht, passt zu ihrer Größe bei gleichzeitiger Einfachheit die Beschreibung der Tonart B-Dur von Mattheson noch sehr viel mehr. Mattheson würde ohne Zweifel den von Weiss gewählten Titel "Divertimento" für eine Suite in dieser Tonart gutheißen, da er selber das französische Wort "divertissant" (belustigen, unterhalten) in seiner Beschreibung verwendet. Ich stimme Mattheson also zu, wenn ich seine Begriffe "prächtig" und "modest" bei der Charakterisierung des Preludes verwende, das wieder wie viele andere Preludes seinen einzigen Zweck darin zu haben scheint, den Zuhörer passend einzustimmen. Die vorsichtige Verwendung von notes inegales lockert die ersten Takte auf und lässt sie mit ihrem "Hör doch, hör doch!" wie einen Auftakt des musikalischen Verlaufes erscheinen.

Mit den agogischen Kennzeichen einer Allemande sowie einigen sanften Momenten, ist diese Entree doch weniger kunstvoll ausgestaltet als die vorhergehenden Allemanden, sie erspart es uns, in einen tiefen Traum zu fallen. In ihr finden sich einige melodische Phrasen und ein fünfstimmiger Eingangsakkord, die im Voraus auf die vorher erwähnte Allemande der zweiundzwanzigsten Suite verweisen. Andere melodische Zusammenstellungen lassen bereits die Entree anklingen, mit der "L'Infidele" beginnt. Über die Verzierungen in den Wiederholungen hinaus, scheint es mir hier angemessen zu sein, den Auftakt jedes Teiles näher an den Taktstrich hinzurücken, so dass er mehr einem Achtel als einem Viertel gleicht.

Den beiden Bourrees geht keine Courante voraus, was etwas überrascht, weil sie in den ersten sechzehn Solosuiten nie gefehlt hat (auch nicht bei Nr.  11 mit seinem Air en echo das an ihrer Stelle stand). Noch mehr überrascht, wenn man bemerkt, dass von den restlichen zehn Solo-Suiten nur drei eine Courante enthalten. Nach Suite Nr. 16 scheint der Komponist in eine zweite "Phase" des Londoner Manuskripts eingetreten zu sein, die gekennzeichnet ist von "gebrochenen Formen", "speziellen" Suitensätzen (Rigaudon, Passepied, Musette, Presto) und außergewöhnlichen Satzanordnungen. Von nun an findet sich bei Weiss der vorherrschende Wille, mit den Konventionen zu brechen.

Schon beim ersten Lesen war ich mir sicher, dass die beiden Bourrees, wie bereits vorher erwähnt, als ein zusammengehöriges Ganzes geschrieben wurden, oder zumindest dazu bestimmt wurden, miteinander gespielt zu werden. Die zweite antwortet auf die erste, indem sie in gewisser Weise die musikalische Atmosphäre und den Verlauf ergänzt. Der Beginn der zweiten, mit der harmonischen Struktur von I-V-VI und nicht I-V-I, lässt sich nur als Fortführung der ersten Bourree verständlich machen. Von diesem Schema eines aus zwei Teilen bestehenden Ganzen wird genauso vorteilhaft bei den Gavotten und Minuetten Gebrauch gemacht. Bei der Bourree II fallen die äußerst überlegten Fingersätze der rechten Hand auf, die eine guten Betonung nahelegen sollen. Der ganze Reichtum der Gavotten, der auch die Resonanzen eines frei klingenden harfenähnlichen Klangs der Saiten mit einschließt, wird nur auf dem originalen Instrument offenbar. Auch hier erschließt sich die Klangfülle erst beim Spielen und nicht schon beim Lesen des Notentextes. Der Unterschied in der Taktart zwischen den Gavotten (Nr. 2 steht in 2/2 und Nr. 1 in 2/4) rechtfertigt, dass in der zweiten die Betonung etwas weicher gespielt wird, was wiederum verdeutlicht, wie diese beiden Werken sich gegenseitig ergänzen. Die weicheren Akzente erleichtern den Wechsel zwischen den anmutigen Triolen der Gavotte II und den hämmernden Rhythmen von Gavotte I. Die beiden Bourrees und die zwei Gavotten haben alle am Ende eine Reprise. Auffällig ist, dass die Wiederholungen der zweiten Bourree und der zweiten Gavotte kürzer sind als die ihres jeweiligen Gegenstückes. Diese Symmetrie untermauert die Ausgewogenheit des ganzen Werks.

Die Sarabande gewährt uns einen Moment der Windstille inmitten von unruhigeren Flügen. Ihre Proportionen sind diesmal etwas maßvoller ohne die langen, schweren Phrasen der anderen Sarabande dieser Aufnahme, die eine beinahe ängstliche Beklemmung hervorrufen. Diese Kargheit des Notentextes ist, paradoxerweise, ideal für gewisse elegante Verzierungen im Stil einiger Cembalo-Stücke von Louis Couperin. Insbesondere im zweiten Teil wird an der Tabulatur wieder deutlich, wie die stark die ineinander klingenden Töne der Laute die Stimmung in diesem Stück beeinflussen. Ich hatte darüber an anderer Stelle bereits geschrieben. Nehmen wir zum Beispiel Takt 17:

Diese Phrase zeigt das Material, das in in verschiedenen Tonlagen wiederholt wird. Notiert sieht das simpel aus, aber auf dem Instrument erstrahlt es in vollem Glanz. Außerdem möchte ich hier noch erwähnen, dass bei der Laute die Bass-Linie beim Zuhören sich oft nach zwei vollkommen eigenständigen, gleichzeitig erklingenden Stimmen anhört. Diesen polyphonen Aspekt darf man nicht außer Acht lassen. Man muss ihn beim Spielen mit großer Sorgfalt kontrollieren, um dem "wahren" Stück Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, das unter der geschriebenen Notation verborgen liegt.

Das erste Menuett habe ich ähnlich wie die erste Gavotte mit Diminutionen verziert. Gesteigert werden kann das ohne Weiteres durch den Gebrauch von notes inegales, wozu der Lombard-Rhythmus (umgekehrte notes inegales) gezählt wird. Gitarristen werden sich sicher besonders für die Binde-Technik kurz vor Ende des zweiten Teils interessieren. An dieser Stelle wird eine Saite gezupft und auf einer benachbarten Saite erfolgt anschließend die Bindung, was den Eindruck erweckt, als ob die gezupfte Saite gebunden wird. Damit nimmt Weiss eine Technik vorweg, die der berühmte Gitarrist/Komponist Francesco Tarrega eineinhalb Jahrhunderte später in einigen seiner Werke verwendet. In den Takten, bei denen auf dem zweiten Schlag eine Halbe-Note liegt, ergibt sich der gewünschte Effekt, wenn man die Akkorde auf dem ersten Schlag gut betont. Insbesondere C.P.E. Bach hat mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, dass im Barockzeitalter die Notenlänge in gewisser Hinsicht ungenau notiert wurde und stark vom musikalischen Zusammenhang abhing. Außerdem konnte man manche Töne mit einem extremen Stakkato spielen.

Wie die zweite Gavotte, ist auch das zweite Minuet mit einem anderen Zeitmaß als der entsprechende Satz versehen, hier 3/8 anstatt 3/4. Das hilft den fließenden Charakter der Phrasen zu erkennen, die im Gegensatz zu den hüpfenden Themen des ersten Minuets stehen. Mit Ausnahme der Takte drei bis fünf sollte man hier nicht den zweiten Schlag betonen, was sonst typisch für ein Menuett ist. Im zweiten Teil begegnen wir einer Art Echoeffekt, der durch eine Mischung der Saiten in der hohen Lage entsteht, während wir durch einen kurzen aber heftigen Wirbelsturm reisen. Der erzielte Klang ist dem Klang einer E-Gitarre mit Phlanger nicht unähnlich. Die Rückkehr zur Leichtigkeit gelingt leicht und natürlich, wie bei Mozart. Eine Saltarella beschließt die Suite mit einfacher Anmut. Sie ist eine exquisite kleine Gigue, die dem lateinischen Ursprung ihres Namens (saltare - tanzen) mit ihrer tänzerischen Fröhlichkeit alle Ehre macht.


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