© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 5 in c-moll
(Smith-Crawford 7)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Wenn man Suite Nr. 4 als «Suite der Ähnlichkeiten» bezeichnen könnte, dann müsste man die Suite Nr. 5 die «Französiche Suite» nennen. In der Tat ist sie eine der ersten Kompositionen von Silvius Leopold und liegt noch vor seiner langen Reise nach Italien (1708-1714). Der Einfluss der alten französischen Lautenmeister ist in ihr noch ungebrochen durch den italienischen Esprit, den er später begierig in sich aufgenommen hat. Diese Suite ist sein ältestes datiertes Werk (1706), denn in der Dresdener Version findet sich die von Weiss selber geschriebene Überschrift: «Von anno 6. In Düsseldorf, ergo Nostra giuventù comparisce» (Vom Jahr 6 in Düsseldorf, deshalb kommt unsere Jugend zum Vorschein). Silvius Leopold und sein jüngerer Bruder Johann Sigismund waren zu dieser Zeit als Lautenisten am Rheinischen Hof in Düsseldorf angestellt.

Die Version von Dresden ist wegen dieser Bemerkung sehr wichtig. Auf der anderen Seite fehlt in ihr das Menuett, bei dem im Londoner Manuskript Weiss selber eine Phrase eingefügt hat. Auch bei der Courante hat Weiss eine vollständige Zeile hinzugefügt. Diese Einfügungen lassen sich leicht durch die Handschrift von den anderen 5 Kopisten unterscheiden. Nur die Allemande erscheint noch in einem anderen Manuskript, diesmal in dem von Paris. Dass das Prelude fehlt und eine Gavotte hinzugefügt wurde, erlaubt uns eine Analogie zu Bach's Französischen Suiten herzustellen, die kurze Zeit später komponiert wurden. Auch sie beginnen mit einer Allemande, drei von ihnen enthalten eine Gavotte, und eine der Suiten steht ebenso in c-moll. Ohne behaupten zu wollen, dass diese Abfolge kanonisch wäre, wird doch verständlich, dass der französische Stil bei den späten deutschen Barockmusikern beliebt war und sie dazu ermutigte, gewisse Kompositionsstrukturen anzuwenden.

Bereits von den ersten Noten der Allemande an zieht uns die in das tiefe Register gelegte Melodie mit ihrer tragischen Düsternis in ihren Bann. Sie entspricht ganz dem melodischen Stil, der für die "Französischen Lautenisten" charakteristisch war. Viele Werke des umfangreichen Repertoires für Barocklaute im 17.Jahrhundert beginnen auf diese Weise. Trotzdem ziehe ich es vor, hier "notes égales" zu verwenden, die im späten Barock üblich waren, auch wenn "notes inégales" hier möglich wären. Die Version von Dresden stellt eine interessante Variante der Londoner dar: Sie ist viel sparsamer. Der Vergleich erlaubt uns festzustellen, "wie weit wir gehen können", wenn wir als Interpreten versucht sind, die Fingersätze oder sogar die Noten zu ändern. Voila, das ist ein vortreffliches Beispiel: Es ist hier nicht ratsam, die beiden Versionen ineinander zu vermischen. Ein Interpret sollte sich für eine der beiden Versionen entscheiden, es bleibt ihm dabei aber überlassen, dazu passende Verzierungen einzufügen.

Die für c-moll charakteristische Traurigkeit läßt jedoch auch lebhaftere Momente zu, wie zum Beispiel an der Courante sichtbar wird. Die hier und da auftauchenden Hemiolen und die in der Melodie versteckten inneren Stimmen (Sie sind im Notenbild nicht sichtbar, aber werden aber beim Spielen hörbar, da die Töne auf dem Instrument oft länger klingen als es ihrem tatsächlichen Notenwert entspricht) verschaffen diesem Werk eine großartige Spiritualität (siehe dazu: The late Baroque Lute : Sonority, Sound Aesthetic, and ornamentation , LSA Quarterly, February/May 1998; in deutscher Übersetzung im Lauteninfo 3/2000 und 4/2000).

Die folgende Gavotte ist wieder mehr im Stil der französischen Lautenisten gehalten entsprechend dem Beginn der Allemande. Es legt sich bei diesem Satz nahe "notes inégales" zu verwenden, denn der Charakter der Gavotte ginge bei "notes égales" verloren. Manche ihrer Kadenzen erinnern stark an Robert de Visée, genauso wie der Beginn der folgenden Sarabande, wo der punktierte Achtelrhythmus , und keine gleichmäßigen Viertel oder Achtel verwendet werden. Als letzte Bemerkung zur Gavotte sei noch ihre stilistische Nähe zur Courante von Bach's erster Lautensuite erwähnt. Beide alternieren Passagen von "hüpfenden" Achteln mit gelegentlichen regelmäßigen Sechzehnteln. Auch das gehört zum vieldeutigen Charme der "notes inégales", die im französischen Stil mehr eine kontrollierte rhythmische Verschiebung meinen als ein fortwährendes genaues Punktieren.

Es gibt eine andere Art rhythmischer Ungleichmäßigkeit, die sich häufig bei einer Sarabande findet, wie auch hier. Lange meditative Seufzer verlängern bisweilen den Takt. In Verteidigung gegen Kritiker, die es nicht gut finden, wenn das Metrum nicht strikt eingehalten wird, möchte ich einwenden: "Wie könnte ich ausdrucksstark spielen, wenn ich metronomisch genau von Anfang bis Ende spiele?" Vergessen wir nicht, dass viele Autoren genau das ausgesprochen haben, einige bereits sehr früh wie Caccini 1601, dann bis zum Ende der Barockzeit. Couperin hat die Meinung vertreten: "Man darf sich nicht zu genau an das Metrum binden; man muss alles dem Geschmack unterordnen, der Klarheit der Passagen und dem Fließen der Akzente." Diese Sarabande spiegelt die grundsätzliche Qualität wieder, die man c-moll damals nachsagte, "ein charmantes Timbre trotz seiner Traurigkeit".
Dasselbe kann man von dem Menuett sagen, das in seinem Stil eine andere Art der rhythmischen Ungleichheit des Barock bevorzugt, den Lombard-Rhythmus, der einfach aus umgekehrten "notes inégales" besteht: (die kürzere Note zuerst, die längere danach), im Gegensatz zu den "notes inégales":   (umgekehrt). Die Musik selber legt den Gebrauch des Lombard-Rhythmusses zu Beginn des zweiten Teils und der Reprise nahe.

Die Gigue als Schlusssatz ähnelt der Courante, sie ist sehr ernsthaft und doch sehr dynamisch. Die diatonisch absteigenden Bässe erreichen hier eine dramatisch Fülle und Tiefe, was uns an die Behauptung von Historikern erinnert, dass der Barock "vom Bass regiert wurde". Das betrifft natürlich in erster Linie den Kompositionsstil. Aber wir können das genauso von den reichen Basstönen sagen, die erst durch die Entwicklung der Barocklaute möglich wurden.

Die letzte Bemerkung zu dieser Suite hat mit der erstaunlichen Beweglichkeit der rechten Hand zu tun. Im Alter von zwanzig hatte Weiss zwar noch nicht den großen Bogen, der die Werke seiner Spätzeit auszeichnet - sie erreichen erstaunliche Dimensionen - , aber die Technik seiner rechten Hand war schon so gut wie perfekt. Das zeigt sich an seinen kühnen und schwierigen Saitenwechseln, die große Spreizungen erforden.
 



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