© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 22 in F-Dur
"Le Fameux Corsaire"
(Smith-Crawford 28)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Von den mehr als neunzig bekannten Suiten, die Weiss komponiert hat, tragen nur "L'infidel" und Suite Nr. 22 einen literarischen Titel. Von Douglas Alton Smith wurde die Vermutung geäußert, dass der fragliche Pirat aller Wahrscheinlichkeit nach Edward Teach (Blackbeard) war, über dessen Leben und spektakulären Tod 1718 während der Lebenszeit von Weiss in der Presse ausführlich berichtet wurde. Ein anderer Kandidat wäre René Duguay-Trouin, ein Gefreiter der damaligen Zeit, der sich durch abenteuerliche Taten derselben Art hervorgetan hat.

Noblesse und Leichtigkeit sind die Attribute, die mit F-Dur einhergehen, einer der Lieblingstonarten von Weiss. Diese Beschreibungen treffen genauso auf die früher aufgenommenen Suiten Nr. 1 und Nr. 14 zu.Le Fameux Corsaire ist in komletter Form in zwei Manuskripten erhalten, im Londoner und im Dresdener Manuskript. Beide Versionen enthalten melodische und rhythmische Verbesserung, wobei die größten Unterschiede in der Bourree und im Minuett auftreten, Stücken, die sich ebenfalls in einer der Wiener Handschriften von der Hand des Komponisten finden. Das Presto ist, nebenbei gesagt, im Moskauer Manuskript unter dem Titel Allegro vorhanden.

Die Allemande stellt uns vor ein interessantes Problem: In Dresden sind die Noten des zweiten und dritten Taktes in der doppelten Geschwindigkeit wie im Londoner Manuskript notiert. Von der musikalischen Schlüssigkeit her scheint das eher das Result einer kompositorischen Nachbearbeitung als ein Kopierfehler zu sein, da die fraglichen Takte viel besser fließen als in der Londoner Version. Die erste Version muss dem Komponisten langsam und unausgewogen im Verhältnis zu den größeren rhythmischen Zusammenhängen erschienen sein. Dies ist keinesfalls ein isoliertes Beispiel für eine Bearbeitung von Weiss. Es gibt einige Beispiele in Londoner Manuskript, wo Passagen überarbeitet worden sind, wie zum Beispiel im Minuet dieser Suite, wo Weiss selber zwei Verbesserungen angebracht hat. Genauso lassen sich Beispiele finden, wo Noten in zwei verschiedenen Manuskripten ganz leicht unterschiedlich sind. Eine mögliche Erklärung für die Unterschiede der fraglichen Takte unseres Stückes ist, dass Weiss zur Zeit der Niederschrift des Londoner Manuskripts, es in "notes inegales" gespielt hat, was als Nebeneffekt zu einer Verlangsamung führt, und dass das Dresdener Manuskript zu einer Zeit enstand, als das Werk in der tatsächlich schnelleren Technik der "notes egales" aufgeführt wurde. Diese Vermutung stützt sich allerdings nur auf praktische Aufführungserfahrungen.

Die Allemande ist wahrhaft elegisch, sie ist außerst kontemplativ in ihrem Entwurf und erfreut das Ohr mit der Anmut ihrer heiteren Majestät. Im Gegensatz zum üblichen Vorgehen, habe ich bei dieser Aufnahme die Wiederholungszeichen nicht beachtet. Diese Entscheidung gründet sich auf der Wahrnehmung, dass dieses Stück als ein ruhiges Prelude für diese Suite dient, die den Zuhörer auf die kraftvolle Brillanz der folgenden Courante vorbereitet. In der Tat geht der Allemande keine Ouvertüre voraus. Der erste Teil scheint unüblich kurz und darüber hinaus ist das ganze Stück aus durchkomponierten melodischen Linien gemacht. Diese drei Faktoren sprechen gegen die Notwendigkeit von Wiederholungen.

Die Courante scheint an das Epos von dem berühmten Piraten zu erinnnern mit ihren langen, sanften Phrasen, die möglicherweise die Bewegung von Meereswellen abbilden sollen. Raffinierte Hemiolen addieren sich hier zu den Kadenzteilen, die Oktavverdoppelungen enthalten, ein farbiges Stilmittel, dass im späten 18. Jahrhundert zu einem pianistischen Cliché wird. Die Bourree ist ebenfalls gekennzeichnet von einer melodischen Wellenbewegung, die manchmal in der Basstimme beginnt. Weil wir uns für die thematischen Verwandschaften zu anderen Werken interessieren, gilt es hier festzuhalten, dass die vorher erwähnte Bass-Melodie sich in der c-moll-Fuge in Bach's Wohltemperiertem Klavier wiederfindet. Die zeitliche Reihenfolge der Kompositionen wäre: Weiss 1719 (?), Bach 1722.

Ein dunkler Schatten wirft sich auf das Geschehen durch den Beginn der Sarabande in der parallelen Moll-Tonart d-moll. Entzückende Triolen-Figuren tragen zu dem sehnsüchtigen (Mattheson würde sagen "andächtigen") Stimmung bei, entstanden durch ihre präzise Platzierung im Wechsel mit dem benachbarten rhythmischen Motiv . Ihr folgt ein überaus unaufdringliches Minuett. Ein weiterer Beweis, falls überhaupt nötig, für die thematische Einheit, die die ganze Suite überspannt, findet sich in den ersten beiden Takten des Minuetts, die identisch sind mit der Allemande am Anfang (trotz einer kleinen rhythmischen Verschleierung). Die Manuskripte von Dresden und Wien machen uns ein Geschenk in Form ausgeschriebener Verzierungen der vier Schlusstakte. Es wird uns dort ein exzellentes Beispiel für die Verwendung von Vorhalten durch Diminution gezeigt, sowie eine harmonische Ergänzung unter der Hauptstimme; ein wertvolles Muster für jeden Interpreten.

Der letzte Satz Presto, im Moskauer Manuskript mit Allegro überschrieben, wird hier auch mehr oder weniger so gespielt, genauer gesagt ohne übermäßige Hast. Ausgeschmückt durch lange Phrasen, macht der Satz den Hörer wieder mit einer fröhlichen und ausgelassenen Atmophsphäre bekannt. Der Forscher/Lehrer Patrick O'Brien machte die nützliche Beobachtung, dass das Eingangsthema von einer bekannten Dudelsackmelodie stammen könnte (1), genauer gesagt einem Seemannslied, die für eine weitere Assoziation mit demTitel der Suite sorgt.

(1)


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