© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 23 in a-moll
"L'Infidèle"
(Smith-Crawford 29)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Von Gitarristen, Lautenisten und bloßen Zuhörern gleichermaßen als eine der ansprechendsten Kompositionen von Weiss angesehen, war "L'Infidel" einer der Hauptursachen für meine Wendung hin zur Laute. Es scheint mir deshalb an dieser Stelle angemessen, das Werk zweier großer Interpreten zu würdigen, die mir den Anstoß gegeben haben für diese Gesamtaufnahme des Londoner Manuskripts. An erster Stelle möchte ich das Werk von Eugen M. Dombois nennen, dessen großartige Aufnahme dieser Suite 1971-1972 so viele Gitarristen von den fabelhaften Ausdrucksmöglichkeiten der Barocklaute überzeugte. Zweitens wäre ich sehr nachlässig, wenn ich versäumen würde, die Bemühungen von Nigel North zu erwähnen, dessen untadelige und außergewöhnliche Musikalität einen großen Teil dazu beigetragen hat, dass die Barocklaute den Rang eines vorzüglichen Soloinstrumentes erhielt. Dadurch hat er der Barocklaute einen ähnlichen Dienst erwiesen wie Gustav Leonhardt das für das Cembalo getan hat.

Der farbige Titel des Werks lässt sich am besten durch das gelegentliche Auftauchen von überraschenden "orientalen" Intervallen erklären, am auffälligsten zu Beginn des Menuetts. Man kann durchaus eine Parallele ziehen zwischen dieser musikalischen Schreibweise, die den konventionellen harmonischen Regeln "untreu" war und dem Gebrauch desselben Ausdrucks für die "ungläubigen" Moslems, die sich dem christlichen Glauben widersetzten, denn im Jahr 1683 wurde der Vormarsch der Türken durch Europa vor den Toren von Wien gestoppt. Der Führer der siegreichen christlichen Streitkräfte war Johannes III. König von Polen, dessen Nachfolger zu Weiss Lebzeiten auch in Dresden regierten, da Sachsen und Polen unter derselben Krone waren. Bemerkenswert ist außerdem, dass Weiss während seines Aufenthalts in Rom im Dienst der polnisch-königlichen Familie stand.

A-moll wird von Mattheson folgendermaßen beschrieben: "Soll einen prächtigen und ernsthaften Affect haben, so, daß er doch dabey zur Schmeicheley gelencket werden mag. Ja die Natur dieses Tones ist recht mäßig, etwas klagend, ehrbar und gelassen, item zum Schlaf einladend, und kan fast zu allerhand Gemüths-Bewegungen gebraucht werden. Ist dabey gelinde und über die Massen süsse." Die außergewöhnliche Genauigkeit diese Beschreibung wird sofort sichtbar, wenn man die 23. Suite spielt. Wie bei den beiden vorhergehenden Suiten ist auch diese Suite im Manuskript von Dresden zu finden. Dort sind allerdings Musette und Sarabande in der Reihenfolge vertauscht. Nur das Menuett findet sich noch in weiteren Quellen, in zwei Manuskripten von Warschau um genau zu sein.           

Wie in Le Fameux Corsaire hat auch hier der erste Satz, die Entrée, die Funktion einer Ouvertüre, hier auf kraftvolle, grandiose Weise, die wahrscheinlich an den Ruhm des vorher erwähnten Königs Johann Sobieski erinnern soll. Anders als bei der Allemande von Suite Nr. 22 sind bei dieser Entrée die Wiederholungen offenkundig notwendig. Die Courante ist eine Mischung aus Nostalgie und Lebendigkeit mit zugleich vollständig originären Kompositionstechniken, die am deutlichsten in den ausgearbeiteten Kadenzen am Ende der beiden Teile hervortreten. Eine große Überraschung ist, dass hier das Thema von Love Story 250 Jahre vor seiner Zeit zu hören ist! Die Sarabande scheint den unaufhaltsamen Lauf des Schicksals zu symbolisieren. Die einzigartige musikalische Atmosphäre passt hervorragend zum musikalischen Vortrag auf der Laute in langsamem Tempo. Das Menuett ist ebenfalls sehr lautentypisch mit seinem gekonnten Einsatz von Campanellas, wobei die Noten einzeln auf die verschiedenen Saiten verteilt sind. Die daraus resultierende schimmernde Textur schöpft den der Laute des Spätbarock innewohnenden Reichtum voll aus. Mehr noch als in den anderen Sätzen scheint die Musette auf direkte Weise zu sprechen. Sie offenbart die verborgenen Bedeutungsebenen voll tiefer Poesie, die sich in dem Wechsel zwischen zarten Phrasen und denen mehr kriegerischer Art Raum schaffen, die letzteren erinnern uns an den Titel der Suite. Es ist interessant zu entdecken, dass die Musette das einzige Stück dieser Suite ist, in dem die beiden tiefsten Chöre verwendet werden. Vielleicht wurde die Suite ursprünglich ohne Musette für ein 11-chöriges Instrument komponiert und zu einem späteren Zeitpunkt neu bearbeitet, nachdem Weiss wie seine Zeitgenossen auf die dreizehnchörige Laute umgestiegen war. Man könnte sogar vermuten, das er seiner neuen Laute zu Ehren ein Stück komponiert hat, um die Neuigkeit des tiefen A's zu feiern. Obwohl im Dresdener Manuskript die anderen Sätze für 13-chörige Laute umgearbeitet wurden, ist die Aufführung der Londoner Version nicht weniger lohnend, das klangliche Gleichgewicht ist in jeder Hinsicht vollkommen. Dasselbe gilt auch für die melodischen und rhythmischen Variationen der Dresdener Musette, mit Ausnahme eines einzigen Taktes, der im Londoner Manuskript wohl einem Kopierfehler zu Opfer gefallen ist. Die Paysane behält die durchgehende Majestät der Suite bei und bietet darüber hinaus noch einen sehr tänzerischen Rhythmus. Sie bildet einen begeisternden Abschluss der Suite, heldenhaft und siegreich.


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