© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 19 in g-moll
(Smith-Crawford 25)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

Diese Suite findet sich fast vollständig, allerdings mit einer anderen Sarabande, auch im Dresdener Manuskript, wo sie als Autograph überliefert ist. Ich habe mir deshalb erlaubt, sparsam einige vorteilhafte Varianten von dort zu entleihen. Insbesondere in der Bourrée habe ich einige Noten von dort hinzugefügt, um die Harmonie in einigen Takten anzureichern. Erwähnen möchte ich, dass im Dresdener Manuskript ein von einem Kopisten hinzugefügtes Prelude enthalten ist. Ich habe es aber für unnötig befunden, es hier mit aufzunehmen, weil der Zusammenhang zur Suite fehlt und es sehr kurz ist (es ist nur 3 Zeilen lang). Darüber hinaus erscheint dieses Prelude überaus konventionell: es besteht nur aus Arpeggios, die darüber hinaus direkt aus einem anderen Prelude zu entspringen scheinen (Dresden, Seite 25). Mattheson spricht in seiner Beschreibung der Tonart g-moll von "mäßigen Klagen und temperirter Fröhlichkeit". Dies erschien uns ziemlich unangemessen für die von düsterem Klagen erfüllte Suite Nr. 3. In Suite Nr. 19 hingegen herrschen diese Stimmungen vor. Die "muntere Lieblichkeit", von der Mattheson spricht, ist hier sehr offensichtlich. In g-moll steht die reine Quinte der Tonika (D) durch die Anordnung der leeren Saiten klanglich im Vordergrund, was im Schlussteil aller sechs Sätze eine besondere Spannung erzeugt. Das ist wiederum ein Kennzeichen der Laute, das sich mehr dem Ohr als dem Auge erschließt.

Der erste Satz ist überschrieben mit Andante, einer "moderneren" Bezeichnung als Allemande, wobei beide dasselbe Tempo bezeichnen (nicht schnell, aber bewegt). Der Titel im Dresdener Manuskript lautet Allem:andante. Von Anbeginn der Tabulatur zeigt sich die erstaunliche Geschicklichkeit an den weiten Finger-Streckungen. Man könnte daraus schließen, dass Weiss mit seinen Fingermaßen keine Probleme hatte. Auch wenn dieses Stück innerhalb des gewohnten Kompositionsstil zu verbleiben scheint, finden sich hinsichtlich der Agogik gewisse innovative Wendungen. Stimmendoppelungen und Akkordsatz sind wie immer perfekt, was die volle Tiefe offenbar macht, mit der der Komponist sein Instrument "hörte". Die Tonverdoppelungen, entweder in der Oktave oder im Unison, fügen dem musikalischen Verlauf ein wichtiges Element hinzu, mit zusätzlicher Verstärkung der Harmonien und mit Obertönen, die in sich ein großes Maß an Ausdruckskraft tragen. Wie bereits vorher erwähnt, lassen sich diese Feinheiten nicht dem Notentext entnehmen.

Durch die unterschiedlichen Intervalle zwischen benachbarten leeren Saiten entstehen ganz verschiedene Zusammenklänge (konsonant oder dissonant) auch wenn man im selben Bund greift (bis auf das letzte Beispiel ist die tiefere der beiden Saiten jeweils im zweiten Bund gegriffen):

Weiss hatte die unterschiedlichen Saitenabstände offensichtlich so verinnerlicht, dass er diese für die Laute so typische Verwendung der Nachbarsaiten sinnvoll in den verschiedensten Tonarten verwenden konnte, wo sie auf sehr unterschiedliche Weise aufgelöst werden. Ein Lautenspieler muss sich diese Kenntnis zu eigen machen, um sie beim Vortrag in der richtigen Dynamik gebrauchen zu können.

An dieser Stelle lohnt es sich, einen Blick auf die Bass-Linie am Beginn des Stückes zu werfen. Auf den ersten Blick sieht die Linie etwas merkwürdig gebrochen und wenig schlüssig aus, aber bei genauerer Prüfung zeigt sich, dass sie gerade durch die beiden unterschiedlichen Tonlagen besonders reich und voll klingt.

In seinem Streben nach Abwechslung ersetzt Weiss hier die normalerweise folgende Courante durch eine lebendige und schelmische Passepied. Anders als bei einem Menuett wird diese Satzform schnell gespielt und hat einen Auftakt am Beginn jedes Teiles. Immer wieder sind Takte eingefügt, bei denen das Taktmaß verdoppelt wird, was den Tänzern erlaubt, einen Fuß über den anderen zu setzen ('passer le pied' oder 'faire le pas'). Obwohl ich bereits genug Bourrees gehört habe, um zu wissen, dass Weiss ein unbestrittener Meister auf diesem Gebiet ist, war es für mich ein völlige Überraschung, hier einen Satz zu entdecken, der sich durch eine entzückende Fröhlichkeit davon unterscheidet. Wie Feuerwerksraketen hinterlassen die musikalischen Phrasen ihre Spur zu der scharf umrissenen, rhythmisch akzentuierten und dennoch klangvollen Begleitung. Die Ausdrucksstärke der Sarabande (thematisch verwandt mit der Sarabande aus Suite Nr. 7) wird durch die hinzugefügten Verzierungen besonders offenkundig. Lange Vorhalte lassen dieses Werk als einen Monolog voll Fatalismus erscheinen, der nicht mit einer Antwort rechnet. Die musikalischen Phrasen bestehen hier aus der Fortschreibung verschiedener rhythmischer Muster, die sich manchmal fast zu widersprechen scheinen, was sich durch die Verzierungen in den Wiederholungen noch verschärft. Das alles trägt zu einem überraschenden und interresanten musikalischen Ausdruck bei. Es ist wieder der Rhythmus, der dem Menuett einen spielerischen Moment verleiht. Die Geschwätzigkeit der "Schwatzbase" (Babilieuse) wird durch den Wechsel zwischen notes inegales und notes egales hervorgerufen. Dadurch ergibt sich zugleich ein entzückend sinnliches Wiegen der Phrasen und ein gewisser Hauch von Turbulenz. Es liegt auf der Hand, dass eine rhythmisch exakte Interpretation nur zu Langeweile beim Zuhören führen würde. Das Geschwätzige findet sich wieder in den langen Trillern, die ausdrücklich so notiert sind. Wenn man die Fingersätze studiert, die der Komponist im Dresdener Manuskript notiert hat, denn wird klar, wie aus seiner Sicht die Phrasen artikuliert und akzentuiert werden sollen. Dasselbe lässt sich auch an der Gigue zeigen, die ebenfalls Fingersätze für die rechte Hand enthält. Trotz eines offensichtlich virtuosen Einsatz des rechten Daumens, zeigen diese Fingersätze meiner Meinung nach deutlich, dass Gigues nicht so schnell gespielt wurden, wie man früher angenommen hat, sondern dass es eher auf einen vollen Klang und kunstvolle Verzierungen ankam.


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