© Michel Cardin
Das Londoner Manuskript


Solo-Sonate 26 in F-Dur
(Smith-Crawford 32)

Die kompletten und berarbeiteten Texte von 'London unveiled' von Michel Cardin können als pdf-Dateien herunter geladen werden (zur Zeit nur in Englisch): 'London unveiled'

            Dies ist die letzte Solo-Suite des Londoner Manuskripts. Neun Einzelstücke1 finden sich zwischen den Suiten Nr. 25 (S-C 31) und 26 (S-C 32), von denen einige eine bemerkenswerte Reife zeigen. Suite Nr. 26, wie die vorhergehende ein ebenso gutes Beispiel für die Tonalität von F-Dur, ist in ihrer Gesamtheit sowohl im Manuskript von Dresden2 als auch in dem von Breslau (Wroclaw) zu finden. Dieselbe Gigue steht auch im Podebrady Manuskript, während die Dresdener Version eine andere Gigue besitzt. Das Menuet 2 ist im Londoner Manuskript nicht in die Suite integriert, sondern ist als ein Einzelstück zwischen die Suiten 18 (S-C 24) und 19 (S-C 25) geraten, 70 Seiten vorher. Weshalb ist das so? Vielleicht wurde es unabhängig davon komponiert und später eingefügt. Eine Bemerkung darüber scheint im Kritischen Apparat der Peters-Edition vergessen worden zu sein, und mein erster Eindruck war, dass das Menuett im Londoner Manuskript nicht vorhanden ist. Ich bin Peter van Dessel, der ein Verzeichnis aller Lautenaufnahmen von Weiss erstellt hat, dankbar, dass er mich auf meinen Fehler hingewiesen hat. In the Breslauer Version trägt diese Suite den Titel Parthie a liuto solo Sigre Silvio Leopold Weiss 1739, wie wir trotz des schlechten Zustands des Microfilms und/oder des Manuskripts zu entziffern glauben. Vielleicht ist das fragliche Jahr aber auch 1729 oder 1719. Verschiedene Versionen desselben Stückes geben uns Gelegenheit, nicht nur verschiedene Fingersätze zu analysieren, sondern auch zwischen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten zu wählen. Die fazinierende Vielfalt der Quellen ergibt eine interessante Vergleichsgrundlage trotz der vorkommenden Fehler in diesen sich ergänzenden Texten.

            Die Allemande folgt dem Modell des entsprechenden Stückes der Suite Nr. 1 (S-C 1). In der Tat könnte man dasselbe von beiden Suiten in ihrer Gesamtheit sagen. Wir finden denselben Kompositionsstil und dieselbe Tonalität am Ende des Londoner Manuskripts (Suite Nr. 26, S-C 32) wie am Anfang (Suite Nr. 1, S-C 1) und auch in der Mitte (Suite Nr. 14, S-C 19). Das ist ein weiterer Beweis dafür, dass der Komponist hier an ein homogenes Ganzes seiner ersten Schaffenszeit gedacht hat, auch wenn manche Werke bereits die Finesse seiner späten, langen Suiten (die letzten 14 der 20 Unikate im Dresdener Manuskript) besitzen. Ich möchte hier bemerken, dass Suite Nr. 22 des Londoner Manuskripts (Le Fameux Corsaire) zu einer späteren Periode gehört. Die gewollte Homogenität ist dergestalt, dass der erste Takt der letzten Suite genau gleich ist wie der der Allemande von Suite Nr. 1! Weil die Dresdener und die Breslauer Kopien einen anderen Anfangstakt haben, empfinde ich es als weise, den Beginn dieser Manuskripte zu entlehnen, um diese Allemande von der anderen abzuheben, obwohl sie zugegebenermaßen danach ganz anders weitergeht. Dennoch gibt es eine mehr als vorübergehende familiäre Ähnlichkeit zwischen den Allemanden der Suiten Nr. 114, und  25. Dasselbe könnten man auch von der Courante sagen, die Stil, Rhythmus, harmonischen Fortgang und Stimmenzusammenspiel mit ihrem Gegenstück in der ersten Suite teilt. Hier ist es wiederum ratsam, dass wir uns mit der uneinheitlichen Notation der Bindungen auseinandersetzen (In dieser Beziehung ist das Dresdener Manuskript sogar noch weniger präzise). Wie immer muss auch hier bei der Interpretation eine Entscheidung gefällt werden. Die Courante besitzt eine einzigartige Leichtigkeit, die uns mit Schwung durch einen erhebenden sequentiellen Aufbau hindurchträgt, der sich in dieser Art wahrscheinlich nur noch in der Courante der achten Suite (S-C 12) findet. Der Zuhörer wird durch ein triumphales Thema mit majestätischen Bass-Sprüngen in Erstaunen versetzt wie auch durch das andere Thema im ersten Teil, das an die "Gloria in Excelcis Deo"-Melodie in "Hört der Engel helle Lieder" erinnert.

           Die Bourrée, genau so wohlkonstruiert wie alle anderen Weiss-Bourrées, überraschend dadurch, dass das erste Thema eine große Ähnlichkeit zu dem Presto von Le Fameux Corsaire besitzt. Mehr Basstöne, oder besser gesagt, Wiederholungen der Basstöne, finden sich in der Breslauer Version. Das lässt einen darüber spekulieren, ob der Kopist vielleicht alte oder kürzer klingende Saiten auf seiner Laute aufgezogen hatte. In der Breslauer Version finden sich beinahe keine Bindungen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass es dem Wesen der Barocklaute zuwider läuft, ohne Bindungen zu spielen, außer in einigen wenigen speziellen Passagen. Wie bei der Gigue der 25. Suite (S-C 31) ist muss auch hier der Spieler die Bindungen in diesem Stück setzen. Die Dresdener Version bestärkt unsere Ansicht, dass kalligraphische Aspekte hierbei wichtiger genommen wurden als die musikalische Genauigkeit. Im Londoner Manuskript ist, ganz logisch, ein großer Bindebogen unter vier Noten gesetzt, während in Dresden nur eine klitzekleine Andeutung für dieselben vier Töne erscheint. Solche kalligraphischen Variationen wurden wohl ganz automatisch von den damaligen Musikern wahrgenommen und re-interpretiert. Uns scheint diese Vorgehensweise heute sehr fern zu liegen, da wir die hohe Präzision der Notation gewohnt sind, wie sie Komponisten seit dem neunzehnten Jahrhundert verlangen.

            Die Sarabande ist von großer Intensität mit großen, ruhig atmenden Phrasen, die empfindsam miteinander verbunden sind. Wie bei den anderen Werken dieser Suite, ist die Sarabande im Londoner Manuskript sehr sorgfältig editiert und zeigt ausgefeilte Fingersätze und Bezeichnungen von Bindungen. Das ist klar bereits vom Anfang des Stückes an.

           Ich möchte an dieser Stelle drei sich ergänzende Thesen bezüglich der Bezeichnung von Bindebögen geben:

1) Mit Tinte geschrieben, wurden gelegentlich auftretende unangemessene Bindebögen nicht ausradiert, da das im Vergleich zu einer falschen Note kaum als ein Fehler angesehen wurde. Auf jeden Fall gab das eventuelle Wiederauftauchen einer ähnlichen Phrase dem Kopisten die Gelegenheit, eine verbesserte Version nachzureichen.

2) Bedingt durch die unvermeidliche Verlangsamung beim Kopieren im Vergleich zur Aufführung geschah das Setzen von Bindungen sehr leicht aufs Geratewohl. Diese Langsamkeit verhinderte die präzise Artikulation angemessener Bindungen, wie sie bei einer gut geprobten Aufführung zu finden sind. In der Tat ist es so, dass man präzise Bezeichnung erst dann setzen kann, wenn einem das Stück sozusagen ‘in den Fingern’ liegt.

3) Wenn, insbesondere bei schnellen Stücken, zwei Personen beim Kopieren beteiligt waren, hat die Person, die das Stück vorgespielt hat, wahrscheinlich willentlich Bindungen vermieden, um den Kopisten jeden einzelnen Ton hören zu lassen.

            Wie bei der Sarabande scheint auch das Menuett in der Breslauer Version etwas hastig geschrieben, mit vielen ungewöhnlichen Fingersätzen. Dieser Satz ist ein Beispiel dafür, wie man durch den Wechsel zwischen ‘notes egales’ und ‘notes inegales’ den Ausdruck gestalten kann, wobei solchen Entscheidungen immer das Streben nach einem natürlichen Ausdruck der Phrasen zugrunde liegen muss. Das Menuet 2 ist voll eleganter Anmut und eine angemessene Verstärkung des ersten Menuetts. Interessanterweise ist hier die Breslauer Version höherwertig als die Dresdener. Solche Diskrepanzen zwischen den Manuskripten zeigen wieder deutlich, wie wichtig es ist, alle Quellen sorgfältig zu erforschen, wenn man sich auf ein solches Projekt einlässt. Als generelle Regel aber lässt sich feshalten, dass das Dresdener Manuskript sorgfältiger editiert ist als alle anderen Quellen, mit Ausnahme natürlich des Londoner Manuskripts.

            Die thematische Einheit der Suite wird im zweiten Menuett durch den Gebrauch von Motiven aufrecht erhalten, die auf Terzen aufgebaut sind, Motive, die von der Bourrée geborgt wurden. Auf jeden Fall zeigen die Fingersätze der linken Hand und die Modulationen im zweiten Teil unserer Ansicht nach klar, dass es von Weiss komponiert wurde. Entzückend ist hier zu Beginn des Stückes der im Barock allgegenwärtige in Quarten absteigende Basslauf (denken Sie an den Kanon von Pachelbel).

            Die Gigue bestärkt uns in unserer Meinung, dass das Londoner Manuskript absichtsvoll in demselben Stil aufhören sollte, wie es begann. Die Giguen der Suiten Nr. 1 (S-C 1) und 26 (S-C 32) haben dieselbe Anzahl von Takten und dieselben Oktavläufe am Ende der Teile. Das Werk wurde entweder zur selben Zeit wie die Gigue der 1. Suite geschrieben oder zu einem späteren Zeitpunkt überarbeitet, um die grundsätzliche Homogenität der beiden Sätze zu verdeutlichen. Die Mordente könnten ein Hinweis für das letztere Szenario sein. Denn in der Tat sind Mordente häufiger in späteren Werken zu finden. Vom Podebrady Manuskript können manche der Bindungen entlehnt werden. Wie üblich sind in allen Versionen, außer im Londoner und Dresdener Manuskript, viele ungenaue Übertragungen (fehlende Bassnoten, Kopierfehler u.a.) zu finden.

 


1 : Vergleichen Sie die Übersicht über die Titel der Londoner Handschrift

2 : Dresden 2, siehe die Dresdener Konkordanz von Peter van Dessel


< Sonate Nr.25      35 Einzelstücke >


 


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